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Serhij Zhadan mit Österreichischem Staatspreis für Europäische Literatur 2025 ausgezeichnet

Serhij Zhadan hält eine Rede auf der Bühne bei der Verleihung mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur
Serhij Zhadan bei der Verleihung des Österreichischen Staatspreises für Europäische Literatur in Salzburg Foto: BMWKMS/ HBF/Daniel Trippolt

Der vom Bundesministerium für Wohnen, Kunst, Kultur, Medien und Sport vergebene Staatspreis für Europäische Literatur geht dieses Jahr an den ukrainischen Autor Serhij Zhadan. Der Preis wurde am 25. Juli im Rahmen eines Festaktes während der Salzburger Festspiele von Vizekanzler und Kulturminister Andreas Babler überreicht.

Der Österreichische Staatspreis für Europäische Literatur wird seit 1965 für das literarische Gesamtwerk einer europäischen Autorin bzw. eines europäischen Autors verliehen, das international besondere Beachtung gefunden hat, was durch Übersetzungen dokumentiert sein muss. Das Werk muss auch in deutschsprachiger Übersetzung vorliegen. Der Preis ist mit EUR 25.000 dotiert.

Vizekanzler Andreas Babler:
"Serhij Zhadan ist einer der prägnantesten Schriftsteller der europäischen Gegenwartsliteratur, der zur literarischen Stimme der Ukrainer:innen geworden ist. Seine Prosagedichte, freien Verse, Songtexte, Tagebucheinträge, Erzählungen und Romane bewegen sich entlang der aktuellen Geschichte der Ukraine und lassen Leser:innen tief ins Innere ihrer Bewohner:innen blicken. Serhij Zhadan gibt dem Schrecken des Krieges und der unsichtbaren, allumfassenden Angst eine literarische Sprache.

Er gibt den Menschen in der Ukraine ihre Stimme und ihre Individualität zurück, die sie im Angesicht des russischen Angriffskrieges zu verlieren drohen. Sein Werk bringt zur Sprache, wofür die Alltagssprache keine Worte findet. Es verfügt über jene literarische Kraft, die es braucht, um in Zeiten des Krieges und des Terrors Zeugnis abzulegen und Hoffnung zu spenden. Mein tiefer Respekt gilt dem Autor und Dichter, dem Menschen Serhij Zhadan, dem ich mich solidarisch verbunden fühle und gratuliere herzlich!"

Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Gäste, liebe Freundinnen und Freunde der Literatur, es ist mir eine große Ehre und eine Freude, Sie heute Abend zur Verleihung des Staatspreises der europäischen Literatur begrüßen zu dürfen. 

Dieser Preis würdigt nicht nur herausragende literarische Leistungen, sondern auch die Kraft der Sprache, die uns in Zeiten des Umbruchs und der Krisen Orientierung geben kann – ja vielleicht sogar Hoffnung.

Heute ehren wir mit Serhij Zhadan einen Autor, dessen kraftvolle Sprache poetisch, politisch und vor allem menschlich ist. In seinem neuesten Werk "Keiner wird um etwas bitten" beweist Zhadan einmal mehr, dass er eine der wichtigsten literarischen Stimmen der Gegenwart ist – in der Ukraine und weit darüber hinaus.
Eindrucksvoll auch seine Gedichte. In dem etwas älteren Band Antenne schreibt er: 

"Wir haben nur die Pflicht – das Wichtigste zu teilen:
unsere Stimme, unsere Empfindsamkeit.
Mag der nächste Frühling kommen.
Mag uns der Optimismus peinlich sein.
Mögen die Stängel des Schilfrohrs wie Antennen das Wichtigste aus der Luft filtern – Rhythmus und Vergebung …
"

Es sind Zeilen voller Hoffnung und voller Leben -  trotz des mitschwingenden Schmerzes. Genau das zeigt, was Literatur kann: Sie kann die Ohnmacht benennen, die Stille durchbrechen, uns erinnern lassen – und sie kann eines: widerständig sein.

Denn Literatur ist ein Ort der Auseinandersetzung. Sie ist ein Raum der Kritik. Alles andere wäre Propaganda.

In Zeiten von Krieg und Vertreibung kann Literatur zum Werkzeug der Aufklärung und der Ermächtigung werden. Zur Stimme der Unterdrückten und Traumatisierten. Und es ist genau dieses Echo, das weit über die Grenzen der Ukraine hinaus hörbar ist.

Dass wir heute einen ukrainischen Autor ehren, hat selbstverständlich auch eine symbolische Bedeutung. Die Geschichte der ukrainischen Literatur in deutscher Übersetzung ist leider mit vielen Leerstellen besetzt. Viel zu lang war sie marginalisiert. Wenig beachtet, wenig übersetzt. 

Das ändert sich jetzt erfreulicherweise wegen Vorkriegswerken Zhadans, wie „Die Erfindung des Jazz im Donbass“ und weniger erfreulich, weil der Krieg ein Schlaglicht auf die Ukraine und ihren wertvollen literarischen Schatz gerichtet hat. Man kann wohl seit 2014 von der Entdeckung der Ukraine in Europa sprechen. Seit 2022 auf jeden Fall.

Wenn wir über widerständige Literatur sprechen, dann müssen wir auch zurückblicken. Denn die literarische Auseinandersetzung mit Gewaltregimen und Krieg hat eine lange Tradition in Europa. 

Der Spanische Bürgerkrieg etwa – kaum ein anderes Ereignis des 20. Jahrhunderts ist literarisch so intensiv bearbeitet worden. International sind bis heute tausende Werke dazu erschienen – ein beeindruckendes Zeugnis für die kulturelle Relevanz dieses Konflikts.

Auch George Orwell war bekanntlich dort und kämpfte auf republikanischer Seite. In „Mein Katalonien“ beschrieb er die Gräuel des Krieges und kam zur Einsicht, dass vor allem jene, die nicht ihr Leben an der Front riskierten, besonders lautstarke Propagandisten des Krieges wurden.

Auch das sehen wir – umgekehrt – in den Werken von Serhij Zhadan, der selbst um die Freiheit seiner Heimat kämpft. Er zeichnet in „Keiner wird um etwas bitten“ nüchterne Bilder der Kriegsrealität, die sich gerade deswegen umso eindrucksvoller in unseren Herzen verfangen. Eben weil Serhij Zhadan den Alltag im Ausnahmezustand, das Menschliche, in den Vordergrund stellt, die Kriegsversehrten, die Zurückgebliebenen ganz Mensch sein lässt, entfaltet dieses Werk seine große Wirkung.

Serhij Zhadan schreibt als Zeitzeuge. Er ist ein Chronist des Widerstands. In seinen Texten erfahren wir vom Krieg, aber auch von der Würde derer, die nicht aufgeben. Er beschert uns Einblicke in fremde Wirklichkeiten – und stellt dabei eine Nähe her. Nähe, die keine Kamera und die keine Nachrichtensendung ersetzen kann.
Die Literatur ist dabei aber nicht neutral. Sie bezieht, durch das, was sie zeigt, klar Stellung. Sie ist eine moralische Instanz, ein Akt des Widerstandes. Wenn sie die Menschlichkeit in den Vordergrund stellt, dann wird sie ganz ohne erhobenen Zeigefinger zum Widerstand gegen Unmenschlichkeit, gegen Krieg, gegen die Unterdrückung. 

Und ich habe das Beispiel des spanischen Bürgerkriegs nicht zufällig gewählt. Er war einer der großen Kämpfe gegen den Faschismus, gegen die autoritäre Welle, die in den 30er Jahren über Europa und die Welt hereingebrochen ist. Viele Autoren haben sich an die Seite der Republik gestellt und gegen den Franco-Faschismus gekämpft. Sie haben den Krieg damals verloren. Doch den Kampf haben Sie gewonnen: Heute steht unsere Gesellschaft, unsere Demokratie auf den Schultern des antifaschistischen Kampfes.

Aus den Lehren dieses Kampfes sind große Errungenschaften hervorgegangen: die Charta der Vereinten Nationen, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, das humanitäre Völkerrecht und die Genfer Konventionen, viele Ebenen der internationalen Kooperation und Solidarität. Gerade in unseren Zeiten, in denen autoritäre Ideologien wieder erstarken, müssen wir uns zu diesen Werten bekennen – in aller Entschlossenheit.

Wir können uns von den vielen Krisen und Kriegen dieser Welt nicht abschirmen. Auch wir Österreicherinnen und Österreicher tragen Verantwortung – als Individuen, als Gesellschaft, aber auch als demokratischer Rechtsstaat. Verantwortung endet nicht an den Außengrenzen. 

Kunst im Allgemeinen und die Literatur ganz im Speziellen hilft uns immer wieder dabei, Verantwortungsbewusstsein zu entdecken und zu fühlen. Sie weckt Empathie, sie schafft Nähe und Verbindungen – wo Gewalt, Chauvinismus und autoritäre Ideologien spalten wollen.

Serhij Zhadan zeigt uns mit seinem Werk: Worte sind machtvoll. Sie können Dunkelheit durchbrechen und Hoffnung stiften, sie können uns aufrütteln und zur Verantwortung aufrufen.  

Lieber Herr Zhadan,
im Namen der Republik Österreich und aller Anwesenden möchte ich Ihnen herzlich gratulieren. 

Serhij Zhadan und Vizekanzler Andreas Babler mit Urkunde Staatspreis
Foto: BMWKMS/ Schneider

Serhij Zhadan

1974 im Gebiet Luhansk/Ostukraine geboren, studierte Germanistik, promovierte über den ukrainischen Futurismus und gehört seit 1991 zu den prägenden Figuren der jungen Szene in Charkiw.

Er debütierte als 17-Jähriger und publizierte zwölf Gedichtbände und sieben Prosawerke. Für Die Erfindung des Jazz im Donbass wurde er mit dem Jan-Michalski-Literaturpreis und mit dem Brücke-Berlin-Preis 2014 ausgezeichnet (zusammen mit Juri Durkot und Sabine Stöhr). Die BBC kürte das Werk zum Buch des Jahrzehnts.

 2022 erhielt Serhij Zhadan den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Zhadan lebt in Charkiw und ist seit Mai 2024 Soldat.

Die fünfköpfige Jury für den Preis 2025:

  • Raphaela Edelbauer,
  • Univ. Prof. Dr. Klaus Kastberger,
  • Dr. Alexander Potyka,
  • Klaus Seufer-Wasserthal
  • Mag.a Anne-Catherine Simon.

Jurybegründung:

"Serhij Zhadan entwickelt seine faszinierend-kunstvollen und dabei immer auch hochgradig lebendigen und vielstimmigen literarischen Räume vor geschichtlich klar erkennbaren Hintergründen.

Die russische Annexion der Krim und anderer Gebiete der Ostukraine dominiert den Roman Internat (dt. 2018). Hier wird ein Krieg ohne Kriegserklärung geschildert, die Auswirkungen auf das alltägliche Leben der Menschen sind desaströs.

Mit dem Großangriff Russlands auf die Ukraine vom 24. Februar 2022 hat sich das Leben und das Schreiben des Autors radikal verändert. Zhadan trat mit seiner Rockband zur Unterstützung der ukrainischen Bevölkerung und seiner Armee an versteckten Orten auf und stellte sich selbst als Helfer hinter der Front dem Abwehrkampf zur Verfügung. In Form eines imaginären Tagebuchs hält er in dem Band "Himmel über Charkiw" (2022) seine damaligen Notizen und Aufzeichnungen fest, die etwa auch die Form von Social-Media-Postings angenommen hatten.

Auch diese Literatur einer unmittelbaren und unverstellten Zeugenschaft hat im Westen großen Eindruck gemacht. Mitte des Jahres 2024 ist Zhadan dann selbst in ein Freiwilligen-Bataillon der ukrainischen Nationalgarde eingetreten und nimmt seither direkt am Kampf gegen die russischen Angreifer teil.

Erst vor wenigen Monaten hat der Autor im Suhrkamp-Verlag, in dem sein literarisches Werk in deutscher Übersetzung erscheint, einen Gedichtband vorgelegt, der den Einschnitt vom 24. Februar 2022 als eine klaffende Wunde in der lyrischen Sprache zeigt. Es ist ein Zeichen der Hoffnung und das Merkmal eines erfolgreichen Widerstandes, dass der der Ukraine aufgezwungene Krieg hier die Stimme der Literatur aus den Angeln gehoben, aber letztlich doch nicht zum Schweigen gebracht hat."

  • Keiner wird um etwas bitten
    Suhrkamp 2025. Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr und Juri Durkot
  • Chronik des eigenen Atems
    Suhrkamp 2024. Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe
  •  Internat
    Suhrkamp Verlag 2023. Aus dem Ukrainischen von Juri Durkot und Sabine Stöhr
  •  Himmel über Charkiw
    Suhrkamp 2022. Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr, Juri Durkot und Claudia Dathe
  • Die Erfindung des Jazz im Donbass
    Suhrkamp 2022. Aus dem Ukrainischen von Juri Durkot und Sabine Stöhr
  • Feuerpause
    Suhrkamp
    Das erste Theaterstück von Serhij Zhadan in deutscher Übersetzung, wird am 29. September 2025 in der Reihe Suhrkamp Theater veröffentlicht

Serhij Zhadan: Zeugnis ablegen und lieben

Es ist ein großer Luxus, in Zeiten des Krieges über Literatur zu sprechen. Im Ukrainischen ist es derzeit viel üblicher, über den Krieg zu sprechen. Um ihn zu sehen, muss man kein Buch zur Hand nehmen – man braucht nur aus dem Fenster zu schauen.

Heute ist der 7. Juli 2025. In der letzten Nacht gab es in Charkiw acht Explosionen. Gegen Morgen setzten die Russen ihre Angriffe fort. Stand 16.00 Uhr waren 66 Personen gemeldet, die Verwundungen erlitten hatten oder unter Schock standen. Vor einer Stunde wurde bekannt, dass eine Frau ihren Verletzungen erlegen ist. Die Russen zerstören unsere Städte, sie vernichten unsere Mitmenschen. Russland führt diesen ungerechten Eroberungskrieg, um uns auszulöschen. Was lässt sich in einer solchen Situation über Literatur sagen?

Es lässt sich sagen, dass selbst in diesem Krieg, der seit 2014 andauert, Bücher auf Ukrainisch geschrieben und gedruckt werden. Einige werden sogar in andere Sprachen übersetzt, zum Beispiel ins Deutsche. Was kann nun ein Leser, zum Beispiel in Österreich, von einem Buch erwarten, das aus dem Ukrainischen übersetzt wurde? Worum wird es wohl von einem solchen Buch gehen?

Mit Sicherheit wird der Krieg in einem solchen Buch präsent sein. Selbst wenn er nicht Teil der Handlung ist, wird er die Pausen und Leerstellen füllen. Er wird im Schweigen und im Atem, im Warten und in den Zeugnissen spürbar sein. Denn es ist der Krieg, der gegenwärtig unser Alltagsleben, unsere Routinen, unsere neue Wirklichkeit bestimmt. Der Krieg durchdringt alles und betrifft uns alle – alle, die durch ihr Land, ihre Staatsangehörigkeit mit einander verbunden sind. Und durch ihre Sprache.

Die Literatur, das Schreiben und die Sprache prägen unsere Vorstellung von der Welt, unser Gefühl für die Welt – ihre Dimensionen, ihre Konturen, ihren Klang. Menschen haben die Möglichkeit, das Leben aus der Perspektive der gelesenen Bücher zu betrachten, es zu bewerten, indem sie Handlungen und Dialoge von Protagonisten einbeziehen. Die Wirklichkeit ist allerdings meist größer als die Literatur, umfassender, erschütternder, überzeugender. Klassische Handlungen können uns etwas erklären, aber sie sind nicht immer in der Lage, uns zu überzeugen.

Wir sind mit großer Literatur aufgewachsen, die den Krieg verurteilt, ablehnt und verneint. Es ist für uns selbstverständlich, den großen Stimmen des 20. Jahrhunderts zu folgen und die Thesen über die Unzulässigkeit des Bösen, die Verurteilung der Ungerechtigkeit, den Edelmut und die Ethik des Mitgefühls zu teilen. Aber es ist eine Sache, ob du es mit Ungerechtigkeit und Mitgefühl in einem Buch zu tun hast, und eine ganz andere, wenn du all das in deinem Nachbarviertel siehst.

Unsere Wirklichkeit findet im Moment in der Leseerfahrung keinen Platz, sie geht darüber hinaus, und genau genommen braucht sie sie nicht. Im Angesicht des Todes ist Literatur nicht immer angemessen. Es ist allerdings nötig, vom Krieg Zeugnis abzulegen, das ist nötig für die Literatur selbst, aber auch für den Leser. Zeugnis abzulegen, um weiter zu kämpfen. Zeugnis abzulegen, um zu lieben.

In den Gesprächen über den Krieg erweisen sich die unterschiedlichen Erfahrungen zumeist als fatal und unteilbar. Die Erfahrung, sich im Vorhof der Hölle zu befinden, lässt sich nicht imitieren oder imaginieren – das lässt sich ausschließlich persönlich erleben. Vielleicht reichen die Möglichkeiten der Literatur aus, um jemandes tiefe Verzweiflung und das Strahlen einer Hoffnung immerhin ansatzweise zu vermitteln. Paul Celans Stimme – brüchig, dunkel, voller Besorgnis und Zärtlichkeit – kann uns wohl kaum den ganzen Schmerz des Verlustes und die gähnende Hoffnungslosigkeit der Menschen erklären, die den Zweiten Weltkrieg durchlebt haben. Dennoch ist sein Zeugnis von diesem Krieg und vom gesamten 20. Jahrhundert viel genauer und eindrücklicher als die Geschichtsbücher und die Biografien der Diktatoren. Wir sollten die Möglichkeiten unserer Sprache nicht unterschätzen. Vor allem, wenn sich die Sprache verändert und ihre gewohnten Potenziale verliert.

Was ist mit unserer Sprache passiert? Wie hat der Krieg sie verändert? Sie hat ihre Leichtigkeit verloren. An ihre Stelle ist der Schmerz getreten. Viel Schmerz. Diese übermäßige Präsenz des Schmerzes deformiert die Sprache, nimmt ihr das Gleichgewicht. Wir sprechen heute die Sprache von Menschen, die unbedingt gehört werden wollen, die sich zu erklären versuchen. Dahinter steckt kein übertriebener Egozentrismus. Wir schreien nicht, um die Aufmerksamkeit auf uns zu lenken – wir schreien, um die Aufmerksamkeit auf jene zu lenken, denen es schlechter geht als uns, denen es ganz besonders schlecht geht, die es schwer haben, die leiden. Wir schreien für jene, die im Moment nicht sprechen können, die ihrer Stimme beraubt sind, die ihres Herzschlags beraubt sind.

Die Präsenz von Literatur in Kriegszeiten wirkt möglicherweise unangebracht oder deplatziert. Literatur setzt die Arbeit mit Sprache voraus, setzt die Schaffung neuer sprachlicher Konstruktionen voraus, setzt kreatives Wirken an sich voraus. Krieg hingegen ist Zerstörung. Zerstörung von Leben, Zerstörung von Wirklichkeit, Zerstörung von Sprache.

In Zeiten des Krieges geht die Sprache zu Bruch. Gewohnte Konstruktionen, die ihre Funktionalität und Wirksamkeit gewährleisten, brechen zusammen. Der Krieg nimmt uns das Gleichgewicht. Und so nimmt er uns auch unsere gewohnten Intonationen. Wenn du in die Finsternis schaust, musst du zwangsläufig das Gesagte und das Gehörte besonders sorgfältig abwägen.

Was wollen wir, wenn wir über den Tod sprechen? Warnen, mahnen, anklagen, betrauern? Welche Möglichkeiten hat die Literatur, wenn es um Dunkelheit und Zerfall geht? Krieg ist eine Situation maximaler Entstellung, vollkommener Verwerfung. Jede Dokumentation der Wirklichkeit im Krieg ist die Dokumentation eines zerbrochenen Raums, einer beschädigten Sprache.

Worum geht es uns? Darum, die Erfahrungen festzuhalten, die wir früher nicht hatten. Keiner von uns hatte vor diesem Krieg die Erfahrung einer derartigen Nähe zum Tod, keiner hat sich jemals so bedroht gefühlt. Städte, in denen jeder Einwohner – egal ob Mann oder Frau, Kind oder alter Mensch, Soldat oder Zivilist – kriegsbedingt zur Zielscheibe wird. Das ändert das Gewicht des Lebens, ändert das Verständnis von Zeit, ändert die grundlegende Wahrnehmung der Zukunft.

Das wirkt sich auf die Sprache aus. Erst angesichts des allgegenwärtigen Schmerzes, des allgemeinen Ausgeliefertseins gegenüber dem Bösen, angesichts der Ungerechtigkeit wird dir bewusst, wie wichtig und notwendig oder umgekehrt wie unangebracht und taktlos deine Worte sein können. Literatur existiert nicht jenseits des Kontexts, jenseits der Gefühle und Emotionen jener, mit denen du den Sprachraum teilst.

Wir versuchen heute nicht nur, die Überreste der Wirklichkeit zu bewahren, die mit dem Beginn des Krieges zerbrochen ist. Wir versuchen, sie, diese Wirklichkeit, wieder neu zusammenzusetzen, neu zu starten, neu zu erfinden, neu zu benennen. Wir lernen wieder neu, mit der Sprache umzugehen, wir testen die Worte auf ihre Funktionalität und Wirksamkeit, wir erinnern an einen Menschen, der nach einer schrecklichen Katastrophe wieder laufen lernt. Die Sprache zeigt sich als nicht allzu stabil, nicht allzu widerstandsfähig, sie hat Schwachstellen, Zonen besonderer Verletzlichkeit und Offenheit. Sie muss nach Druck und Überlastung, nach Zusammenbruch und Erschöpfung wiederhergestellt und wiederbelebt werden. Sprache ist nichts Feststehendes und Unveränderliches, nichts Universelles und Unfehlbares. Eher im Gegenteil – es liegt in ihrer Natur, Fehler zu machen, falsche Töne anzuschlagen, verkehrte Behauptungen aufzustellen. Die Sprache ist nicht fehlerfrei und makellos.

Aber sie ist es, die uns die Möglichkeit gibt, nach einer großen Erstarrung, nach einer Totenstille, nach dem Verstummen, das eintritt, wenn du die fehlende Kraft und den fehlenden Wunsch in dir, etwas zu erklären, bezeugst, wieder von neuem zu sprechen. Gerade die Sprache gibt uns die Möglichkeit, uns die Welt zu erklären und uns der Welt. Gerade die Sprache ist heute unser genauestes und wirksamstes Instrument in unseren Versuchen, uns mit der Welt zu verständigen, in unserem Bestreben, überzeugend und verständlich zu sein. Wir benutzen eine Sprache, die erst jetzt wächst und sich erneuert, wie ein Ast nach einem Bruch. Wir sprechen in dieser Sprache über Dinge, die wir nie artikuliert haben, die in unserem Wortschatz nicht vorhanden waren, die wir nie formuliert haben, weil sie einfach nicht Teil unserer Erfahrung waren.

Heute ist unsere Erfahrung eine ganz andere. Und so auch unsere Sprache. In dieser Sprache wird natürlich auch eine ganz andere Literatur geschrieben werden. Vielleicht werden dieser Literatur Zwischentöne und Zweifel, Verspieltheit und Leichtigkeit fehlen. Aber ich möchte glauben, dass es ihr nicht an Mut fehlen wird, über Schmerz und Freude, über Licht und Dunkelheit, über Ohnmacht und Hoffnung zu sprechen. Sie wird sich nicht scheuen, Zeugnis abzulegen von jenen, die Liebe und Verständnis brauchen. Ich gehe davon aus, dass es eine Literatur von Liebe und Verständnis sein wird. Denn diese Literatur wird von Menschen geschrieben werden, denen genau das genommen werden soll – Liebe und Verständnis.

Es ist sehr wichtig für uns, sprechen zu können. Aber es ist nicht weniger wichtig, nicht nur gehört, sondern auch verstanden zu werden. Denn die Sprache, in der heute in der Ukraine Bücher geschrieben werden, ist die Sprache von Menschen, die versuchen, ihr Leben und ihre Würde, ihre Stimme und ihr Recht zu sprechen zu verteidigen. Das heißt, das Recht, Zeugnis abzulegen und zu lieben. Manchmal reicht das aus, um dem Bösen zu widerstehen.

Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe
(Dankesrede zur Verleihung des Österreichischen Staatspreises für europäische Literatur 2025 an Serhij Zhadan, am 25. Juli 2025, Salzburg)