Gedenkveranstaltung Befreiung vom Nationalsozialismus – Ende des Zweiten Weltkrieges
Die Bundesregierung gedachte am 8. Mai 2025 mit einem Festakt im Bundeskanzleramt an die Befreiung vom Nationalsozialismus und des Endes des Zweiten Weltkriegs in Europa.
Rede von Vizekanzler Andreas Babler:
"Es gibt Momente, in denen sich Geschichte verdichtet.
Momente, über die man im Nachhinein sagen kann:
Die Geschichte hat sich auf sie zubewegt, um genau an diesem Punkt ihren Lauf zu ändern.
Heute vor genau 80 Jahren war so ein Wendepunkt.
Die Stunde Null.
Das Ende des Krieges.
Die Befreiung vom Nationalsozialismus.
Der Tag der Freiheit.
Dieser Moment verdichteter Geschichte markiert das Ende der dunkelsten Periode Österreichs – eine Periode geprägt von Massenmord, Antisemitismus, Entmenschlichung und Kriegswut.
Eine Zeit, die das Schlechteste im Menschen hervorgebracht hat.
Doch gerade aufgrund der vorausgegangenen Dunkelheit leuchtet dieser Wendepunkt umso heller – die Befreiung.
Der Neuanfang.
Das Bekenntnis zum "Nie wieder".
Es ist keine leichte Aufgabe, die richtigen Worte zu einem Ereignis zu finden, das einerseits – heute – ein "Tag der Freude" ist und gleichzeitig vor dem Grauen warnt, das von dieser Freude abgelöst wurde.
Um diese Aufgabe zu meistern, möchte ich Sie alle,
sehr geehrter Herr Nationalratspräsident,
sehr geehrte Frau Bundesratspräsidentin,
sehr geehrte Exzellenzen,
sehr geehrte Abgeordnete,
werte Vertreter:innen verschiedenster zivilgesellschaftlicher Organisationen,
sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen aus der Regierung,
dazu einladen,
mit mir gemeinsam einen Blick in die Vergangenheit zu wagen mit dem Bewusstsein über das, was war, das Gegenwärtige aber vor allem auch das Künftige – zu diskutieren.
Wir müssen uns fragen:
Was hat die Bestie in unserer Gesellschaft damals geweckt?
Was hat sie großgemacht?
Und warum haben wir das geschehen lassen?
Konnte diese Bestie letztlich besiegt werden oder schläft sie nur?
Und was müssen wir heute tun, damit das "Nie wieder" kein bloßes Versprechen ist – sondern Praxis?
Heute und auch in 80 Jahren.
Ich war erst vor Kurzem bei der Eröffnung einer kleinen Ausstellung im Haus der Geschichte.
Die Ausstellung reflektiert einen möglichen künftigen Umgang mit dem Altan der Neuen Burg – dem sogenannten Hitlerbalkon und sie hat mich zum Grübeln gebracht.
Wie der 8. Mai 1945 ein Zeitpunkt verdichteter Geschichte ist, so sind der Altan und der Heldenplatz derartige Orte.
Als Hitler dort unter hysterischem Jubel der Menge den sogenannten Anschluss verkündete und die Nazis wenig später die fauligen Früchte des Hasses und des Antisemitismus ernteten, die schon zuvor gesät worden waren, verfielen viele Österreicherinnen und Österreicher in einen Wahn.
Treiber dieses Wahns war ein Überlegenheitsgefühl.
Menschen wurden für wertlos erklärt.
Sie wurden Schädlinge und noch viel Schlimmeres genannt.
Um dieses Überlegenheitsgefühl einzudämmen, gibt es nur ein Mittel: die gelebte politische Überzeugung der Gleichheit aller Menschen.
Diese Überzeugung ist zu meiner politischen Maxime geworden.
Jeder Mensch an sich hat einen Wert – ist gleich viel wert.
Unabhängig von Religion, Geschlecht, Herkunft, von körperlicher oder psychischer Beeinträchtigung, von sexueller oder politischer Orientierung.
An jedem Menschen hängt ein ganzes Universum – Familie, Freund:innen, Freude, Glück und Sorgen.
Und aus dieser Gleichwertigkeit folgt, dass wir als Menschen Rechte haben –und die gilt es zu wahren. Ansonsten macht sich die Bestie wieder breit –
das Überlegenheitsgefühl.
Wir danken jenen, die diese Werte auch in der dunklen Zeit zwischen 1938 und 45 am Leben erhalten haben.
Jene, die dafür eingesperrt und ermordet wurden.
Weil sie an die Gleichwertigkeit des Menschen geglaubt haben.
Sei es, weil sie Sozialdemokraten, Kommunisten oder gläubige Katholiken waren.
Der Bundespräsident hat bei seiner Festrede zur Republiksgründung die Lagerstraßenmentalität erwähnt.
Mir gefällt diese Gründungserzählung unserer Zweiten Republik sehr.
Dass Persönlichkeiten aus verschiedenen politischen Lagern, die sich zuvor noch erbittert bekämpft haben, an den Orten des Grauens schlechthin gemerkt haben, dass sie einander brauchen.
Dass sie trotz aller Unterschiede vieles eint.
Dass sie sich selbst im anderen gesehen haben.
So konnten sie nach dem Ende des Krieges die große österreichische Kunst des Kompromisses kultivieren.
Ich möchte diese Kunst des Kompromisses um ein Bekenntnis zur Kompromisslosigkeit ergänzen, die sich dort entwickelt hat.
Nie wieder dürfen wir uns über andere erheben.
Nie wieder dürfen wir den Wert einer Menschengruppe infrage stellen.
Nie wieder dürfen wir uns spalten lassen und der autoritären Versuchung erliegen.
Jeder Kompromiss in diesen Belangen droht, die Bestie zu wecken.
Jedes Nachgeben macht das Schlechteste in uns wieder stärker.
Wir dürfen keinen Zentimeter nachgeben. Wir müssen die Maxime der Gleichheit der Menschen leben. Das bedeutet auf den sozialen Ausgleich zu achten. Daran zu arbeiten, allen faire Chancen zu geben, damit wir unser Potenzial als Gesellschaft ausschöpfen können.
Das Gemeinsame vor das Trennende zu stellen und uns nicht spalten zulassen.
Nur so kann eine Gesellschaft Krisen überwinden und dem Autoritarismus widerstehen.
Dieser Ansatz hat uns weit gebracht:
Der österreichische Weg war sehr erfolgreich. Wer hätte vor 80 Jahren gedacht,
als unser Land in Trümmern lag,
dass Österreich eines der lebenswertesten, wohlhabendsten und schönsten Länder der Welt werden würde?
Natürlich war das kein linearer, beständiger Prozess.
Heute muss man sagen: Viele haben den 8. Mai nicht als Tag der Befreiung gesehen.
Das offizielle Österreich sah sich Jahrzehnte lang als Opfer.
Der Neuanfang war kein wirklicher.
Die Entnazifizierung oftmals halbherzig.
Viele "Ehemalige" fanden ihren Weg in die Parteien und hohe Ämter.
Der wirkliche Neuanfang, die echte Abgrenzung von dem Grauen, geschah also nicht plötzlich am Morgen des 9. Mai – sondern in einem ständigen Prozess, der bis heute aufrechterhalten werden muss.
Ich möchte deshalb mit Ihnen gemeinsam darüber nachdenken, wie wir es schaffen, in den nächsten Jahren Jahrzehnten diesen Prozess fortzusetzen.
Lassen Sie es mich allgemein sagen, bevor ich in die Details gehe.
Unsere Aufgabe ist es nach wie vor:
nie zu vergessen, welches Monster aus unserer Gesellschaft erwachen kann. Welche Verbrechen und Verbrecher unser Land hervorgebracht hat.
Die Erinnerung an die Vergangenheit ist aber mehr als nur Mahnung – sie ist, und das ist mindestens genauso wichtig, ein Auftrag.
Ein Auftrag, das Menschliche, das Gute in uns zu kultivieren.
Wir sehen gerade, wie vieles, auf das wir uns in den letzten 80 Jahren verlassen konnten, infrage gestellt wird.
Wir erleben, dass Krieg wieder zu einer legitimen politischen Maßnahme zu werden droht.
Wir merken, dass das Überlegenheitsgefühl einzelner Gruppen – in der Welt, aber auch in Österreich – wieder stärker wird.
Meine Überzeugung ist:
Wenn sich das Schlechte, das Unmenschliche in der Welt breitmacht, müssen wir das Gute in Österreich, das Menschliche in uns stärken.
Welche Weichen müssen wir heute dafür stellen, damit uns das in den nächsten Jahren und Jahrzehnten gelingt und wir die österreichische Erfolgsgeschichte weiterschreiben können?
Wir müssen weiter auf den sozialen Ausgleich achten.
Unser Land hatte keine einfachen Jahre – und es liegen, Sie haben die Budgetverhandlungen verfolgt, keine einfachen Jahre vor uns.
Doch gerade deswegen müssen wir besonders auf jene achten, die es in den letzten Jahren schon besonders schwer hatten.
Künftige Gesellschaften werden den Grad unserer Menschlichkeit daran messen, wie wir mit den Schwächsten unter uns umgegangen sind.
Wir dürfen das in unserer politischen Praxis nie vergessen.
Wir hatten auch keine einfachen Jahre, was das Vertrauen in unsere Medien und unsere Demokratie angeht.
Das Gift der Desinformation hat Spuren hinterlassen.
Die Aufgabe, die sich daraus ergibt, ist klar:
Wir müssen unsere freien Medien stärken.
Guter Journalismus ist das beste Mittel gegen Fake-News.
Wir müssen aber auch als Politik unseren Beitrag leisten.
Wir werden daran arbeiten, Vertrauen zu gewinnen.
Dazu müssen wir uns immer auch der Kritik stellen.
Wir müssen unsere Entscheidungen erklären, auch manchmal Fehler eingestehen, hinhören und besser werden.
Und auch als Gemeinschaft hatten wir keine leichten Jahre.
Unsere Gesellschaft hat sich polarisiert.
Wir haben uns spalten lassen.
Immer öfter wurde von denen da am Land und jenen dort in den Städten geredet.
Von den Ausländern und den Österreichern.
Gruppen bezeichneten sich selbst als "normal"“, nur um damit zu sagen,
die anderen seien es nicht.
Ich habe am Anfang über das Grundübel gesprochen, über die Nahrung der Bestie in unserer Gesellschaft – das Überlegenheitsgefühl.
Dieses Überlegenheitsgefühl kann immer nur entstehen, wenn wir uns auseinanderdividieren lassen.
Wir sollten daher die Risse, die entstanden sind, kitten, bevor sie uns gänzlich spalten.
Nehmen wir diesen Freudentag zum Anlass, das zu tun.
Bemühen wir uns, im anderen auch uns selbst zu sehen.
Sprechen wir jedem Menschen denselben Wert zu.
Das hat uns stark gemacht.
Das macht Österreich aus.
So schaffen wir es, das Grundversprechen unserer Republik zu halten:
Nie wieder Krieg. Nie wieder Faschismus.
Es lebe die Republik."
(08.05.2025)